Unternehmensführung 4.0 – Digitale Transformation und Arbeitswelt
Der technische Fortschritt verändert nicht nur die Binnenstruktur von Unternehmen, sondern auch die Gesellschaft – Wohlstandsniveau, Kommunikationsverhalten, herrschende Auffassungen und ihre Dynamik. Das wiederum wirkt auf die Unternehmen zurück: Nicht nur die Erwartungen an die Mitarbeiter ändern sich, sondern auch die der Mitarbeiter. Anna Dollinger, Geschäftsführerin der renommierten Beratung für Organisationsentwicklung noesis beschreibt, was das für die Unternehmensorganisation und die Personalabteilungen bedeutet.
Leseprobe
Uns neu erfinden – als Unternehmen und als Führungskraft
Big Data, Data Science, Machine Learning: Diese Begriffe signalisieren: „Die Welt verändert sich in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit“. Unsere Märkte und Finanzströme sind undurchschaubar und volatil. Zinsentwicklungen, FinTechs, politische Umwälzungen und Trend-Zyklen jagen einander den Rang ab. Wir befinden uns im Übergang von einer Industrie- zu einer hochgradig vernetzten Informations- und Wissensgesellschaft. International gibt es einen Begriff, der die zunehmende Komplexität und Schnelligkeit dieser Entwicklungen beschreibt: VUCA.
VUCA als Akronym setzt sich aus den vier Begriffen Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität zusammen.
Volatilität beschreibt die Schwankungsintensität von bestimmten Faktoren über einen zeitlichen Verlauf hinweg. Leicht erkennbar ist das am Beispiel von Aktienkursen: Innerhalb eines kurzen Zeitraums schwanken Aktienkurse stark und zeigen „scharfe Zacken“ im Verlaufs-Chart. Je höher die Volatilität, desto stärker und „zackiger“ die Ausschläge. Das hängt auch mit dem Faktor Ungewissheit zusammen: Wir müssen uns eingestehen, dass wir in bestimmten, vor allem auch marktwirtschaftlichen Zusammenhängen niemals alle einflussnehmenden Variablen kennen können: Also immer mehr auch unter hoher Unsicherheit entscheiden müssen. Mit Blick auf den Brexit beispielsweise werden die „unknown Unknowns“ mehr als deutlich.
Der Buchstabe C steht für den Begriff der Komplexität. Von einem komplexen System sprechen wir, wenn die Anzahl der Einflussfaktoren in einem System hoch und die Art der gegenseitigen Einflussnahme der Faktoren in Teilen unbekannt und auch nicht stabil ist. Die Zusammenhänge in solchen Systemen sind nicht linear und es gibt keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Alle menschlichen Systeme, ob wir von einem Wirtschaftssystem, von einem Unternehmen oder auch von einem Individuum sprechen, sind komplexe Systeme. Sie entwickeln sich selbst weiter mit einem dem System eigenen Eigen-Sinn. Ein künftiger Zustand ist – und würde man auch noch so viele und noch so detaillierte Analysen durchführen – nicht mit absoluter Sicherheit vorhersagbar. Wir können Annahmen treffen (zum Beispiel für bestimmtes Wahlverhalten und bestimmte Wahlergebnisse) und allenfalls im Nachhinein bestimmte Ereignisse erklären. Gleichwohl gibt es keine vorhersagbaren, zwingend linearkausalen Zusammenhänge. Somit sind solche Systeme auch nicht linear und direkt steuerbar. Entsprechend lassen sich auch nie Auswirkungen von Entscheidungen bzw. von bestimmten Maßnahmen, Eingriffen und Handlungen vorhersagen.
Das A steht für das Wort Ambiguität und für die Vieldeutigkeit und die Widersprüchlichkeit mit der wir uns in unseren Wirtschaftssystemen zunehmend konfrontiert sehen. Ein Management des Sowohl-als-auch ist gefordert: Ein fortwährendes Handeln und Entscheiden in Dilemmata-Situationen und Welten der Gegensätze. Die Widersprüche lauten „Kürzere Entwicklungszeiten bei gleichzeitig hoher Qualität der Ergebnisse“ oder „Geschwindigkeit und gleichzeitig Zuverlässigkeit“ oder „Standardisierung bei gleichzeitig maximaler Individualisierung“ oder „Innovation bei gleichzeitiger Effizienz-Forderung“. Solche Ansprüche hätte man vor 20 Jahren als schlicht nicht erfüllbar abgetan.
Um in dieser VUCA-Welt zu überleben, müssen wir uns neu erfinden – als Unternehmen, als Team und als Führungskraft.
Zum Beispiel die Fähigkeit, Widersprüche zu integrieren, eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln und entsprechende Lösungen zu finden, ist in einer VUCA-Welt unabdingbar. In dieser Welt bleiben Entscheidungsprozesse stets diskutierbar und letztlich ergebnisoffen. Auswirkungen von Handlungen bzw. Entscheidungen müssen fortwährend beobachtet und gegebenenfalls mit weiteren Maßnahmen begleitet werden. In dieser VUCA-Welt brauchen wir als Führungskräfte eine Reihe neuer Leadership-Kompetenzen. Wie zum Beispiel die Fähigkeit, Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen, die Unschärfe des Kontextes zu akzeptieren und trotzdem Orientierung zu geben: In permanenten Such- und Findeprozessen in kleinen Schritten voranzugehen und dabei die Intelligenz der Gruppen zu fördern und zu schöpfen, Rückmeldeschleifen zu initiieren, Muster zu erkennen und permanent miteinander zu lernen.
Innovativer zu sein und schneller zu lernen als andere, war schon immer der zentrale Wettbewerbsvorteil von Familien- und klein- und mittelständischen Unternehmen. Diesen Vorteil gilt es noch mehr zu aktivieren und zu nutzen. Das wird nur durch einen hierarchiefreien Austausch und Netzwerkstrukturen auch über das Unternehmen hinaus gelingen. Das Organigramm wird durch ein Dynamogramm ersetzt, Hierarchie durch Heterarchie. Netzwerkstrukturen und partizipative Kooperationsprozesse sorgen für tragfähige und bestmögliche Lösungen, weil sie den multirationalen Anforderungen unserer Realität besser entsprechen. Die Rolle der Führungskraft wandelt sich vom „allwissenden Helden“ zum Moderator, der vor allem den We-Q der Gruppe – die Intelligenz der Gruppe – voranbringt. Die Führungskraft muss zum Coach und Mitarbeiter-Entwickler werden, der die individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten seiner Mitarbeitenden mit den Aufgaben und Anforderungen gekonnt zusammenführt. Sie muss zum Inspirator werden, der Orientierung und Sinn vermittelt und Anerkennung und Wertschätzung ausspricht. Von Führenden wird damit heute und künftig eine deutlich höhere Rollenflexibilität erwartet. Wir bewegen uns weg von Command Control, Execute hin zu Sense-Making,
Enabeling, Motivating.
Früher lag Fachkompetenz in den höheren Hierarchie-Ebenen. Bei der heutigen Wissensflut und den hochspezifischen Kompetenzen sind diejenigen, die sich fachlich auskennen, in der operativen Ebene angesiedelt. Dieses Wissen kann nur geschöpft werden, wenn wir Fähigkeiten zum dialogischen Austausch auf Augenhöhe entwickeln, Team-Coaching massiv befördern, Eigenverantwortung und Selbststeuerung stärken. Verschiedenste Konzepte können, je nach Kultur und Reifegrad der Führungskräfte bzw. Unternehmung, dabei helfen, diesen Forderungen zu entsprechen: Formen des Shared Leadership, Führung auf Zeit (auch „gewählte Führungskräfte“), die Verteilung von ‘klassischen’ Führungsaufgaben auf Teammitglieder, wie dies etwa in Holacracy-geführten Organisationen der Fall ist.